Die Unruhen am und im Umfeld des 17. Juni 1953 kamen für die SED-Führung, das MfS und auch die sowjetische Besatzungsmacht trotz vielfacher Unmutsbekundungen der Bevölkerung und kleinerer Streiks der Beschäftigten vorher völlig überraschend. Ausgehend von ersten Berliner Demonstrationen mit der Hauptforderung, die Arbeitsnormenerhöhung zurückzunehmen, entwickelten sich ab 17. Juni morgens in über 700 Städten und Orten vielen Orten und Städten der DDR Demonstrationen und Massendemonstrationen, die schnell in Forderungen zum Sturz der SED-Diktatur, demokratischen Wahlen und der Wiedervereinigung mündeten. In allen 14 größeren Städten ab 50.000 und zehn Großstädten ab 100.000 Einwohnern der DDR kam zu Streiks und Demonstrationen. In 157 kleineren Städten waren ebenfalls Unruhen zu verzeichnen. Streiks gab es in über 1.000 Betrieben und Genossenschaften, gut 250 öffentliche Gebäude von SED, FDGB, MfS, Polizei und Justiz wurden zeitweilig besetzt.
In mindestens 165 Orten in Sachsen fanden Streik- und Protestaktionen statt. Sachsen war damit neben Berlin und der zentralen Industrieregion in Sachsen-Anhalt der dritte Schwerpunkt beim Volksaufstand. Nach sächsischen Bezirken gegliedert, waren dies im Bezirk Dresden 69, im Bezirk Leipzig 60 und im Bezirk Karl-Marx-Stadt 36 Orte, wobei die Liste nach neueren Forschungen aus MfS-Unterlagen noch ergänzt werden muss. Innerhalb Sachsen stachen besonders Dresden, Ostsachsen mit Niesky und Görlitz sowie der Leipziger Raum hervor.
Im Bezirk Dresden beziehen sich die Angaben zu Streikaktionen auf 17 Stadt- und Landkreisen, etwa Dresden-Stadt und -Land, Görlitz-Stadt und -Land, Niesky, Zittau, Löbau, Riesa, Bautzen, Meißen, Pirna, Sebnitz, Kamenz, Bischofswerda, Dippoldiswalde, Großenhain und Freital. Insgesamt wurden am 17. und 18. Juni im Bezirk Dresden gut 50.000 Streikende geschätzt, von denen allein mit 27.645 mehr als die Hälfte auf die Kreise Görlitz und Niesky entfielen, was auch die besondere Rolle dieser Region bei den Unruhen hervorhebt.
Da der DDR-Machtapparat in vielen Städten schnell die Kontrolle verlor und die sowjetische Besatzungsmacht den generellen Waffeneinsatz der DDR-Machtorgane verboten hatte, musste letztere schließlich selbst gegen Mittag des 17. Juni eingreifen und verhängte nach und nach in 167 Land- und Stadtkreisen den Ausnahmezustand, das heißt das Kriegsrecht.
Bereits während, aber vor allem kurz nach der Niederschlagung des Aufstands durch die sowjetischen Truppen setzten großflächige Verhaftungsaktionen durch diese, das MfS und die Volkspolizei ein. Insgesamt dürften es etwa 10.000 Personen – Streikleitungen, Demonstranten, Redner und Akteure gegen DDR-Machtorgane und -Gebäude– für kurze Zeit in Gewahrsam genommen worden sein. Von diesen wurden die meisten schnell wieder entlassen; ein Teil jedoch wurde sowohl vor sowjetische als auch DDR-Gerichte gestellt. Zu Abschreckung verhängten sowjetische Militärtribunale außerhalb Sachsens mindesten sechs Standgerichtsurteile, die am 18. und 19. Juni vollstreckt und öffentlich bekanntgegeben wurden, ein weiteres Urteil wurde in eine Zeitstrafe umgewandelt.
In Sachsen ergingen drei sowjetische Todesurteile an hiesigen Brennpunkten. Das Todesurteil gegen Herbert Kaiser aus Leipzig wurde allerdings erst am 15.12.1953 in Moskau vollstreckt, die beiden Todesurteile gegen Stefan Weingärtner aus Görlitz und Herbert Tschirner aus Löbau wurden später umgewandelt. Insgesamt verhängten die Militärtribunale in Sachsen neben den drei genannten Strafen weitere sechs Zeitstrafen, vier Personen wurden vom sowjetischen Sicherheitsdienst dem MfS zur weiteren Ermittlung und Verurteilung übergeben.
Die Hauptaufgabe zur Ermittlung und Aburteilung von Streikbeteiligten wurde allerdings von DDR-Organen übernommen. DDR-weit sind gut 1.600 Personen für ihre Beteiligung am Volksaufstand vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Ende Januar 1954 lautete die Bilanz: 1.526 Angeklagte verurteilt, davon zwei zum Tode, drei zu lebenslänglicher Haft, 13 zu Strafen von zehn bis 15 Jahren, 99 zu fünf bis zehn Jahre, 824 zu eins bis fünf Jahren, 546 zu bis zu einem Jahr. Zudem gab es 39 Freisprüche.
Wie sieht die Bilanz für den Bezirk Dresden aus den Untersuchungsverfahren des MfS aus? Hier ist klarzustellen, dass Beschuldigte im Gewahrsam des MfS bis Ende 1953 in der Königsbrücker Straße inhaftiert waren, während alle Verhaftete ab 1954 ihre Untersuchungshaft in dem neuen Gebäude an der Bautzner Straße verbrachten.
Mit unmittelbarem Bezug zu den Ereignissen des Volksaufstandes sind insgesamt 138 Fälle in den Unterlagen des MfS Dresden verzeichnet. Unter den 138 Beschuldigten waren vier Frauen. Das MfS teilte die Beschuldigten in sieben Gruppen auf:
– lediglich als Teilnehmer an Demonstrationen: 31 Personen
– als Beteiligte an „Terroraktionen“: 64 Personen
– als mit sogenannten Hetzreden oder Hetzparolen Hervorgetretene: 17 Personen
– als Mitglieder von Streikleitungen oder -aufrufen: drei Personen
– wegen Widerstands gegen die Polizei: 19 Personen
– als „Provokateure“: vier Personen.
Gegen 133 Beschuldigte wurde bereits 1953 ermittelt, von den restlichen fünf wurden vier 1954 und einer 1955 noch verhaftet. Später kamen noch 33 Personen hinzu, die sich neben Hauptanklagepunkten zu anderen Delikten auch wegen „Hetze“ mit Bezug zu Ereignissen des 17. Juni im Bezirk Dresden als unmittelbar Beteiligte (zwölf Personen) oder wegen späteren Äußerungen (21 Personen) vor Gericht verantworten mussten. Insgesamt umfasst der Komplex also mindestens 171 Personen aus dem Bezirk Dresden und zog sich bis 1966 hin. Erst dann war der 17. Juni kein Ermittlungsgegenstand mehr für das MfS.
Die ersten Gerichtsverfahren vor dem Bezirksgericht Dresden fanden bereits ab 27. Juni 1953 statt, endeten jedoch häufig gleich mit der Einstellung der Verfahren und nur relativ wenigen Verurteilungen, so etwa wegen Unruhen in Heidenau oder in Pirna. Größere Prozesse gegen Teilnehmer in den Schwerpunkten der Unruhen in Zodel bei Görlitz, Niesky, Ludwigsdorf, Görlitz und Dresden wurden ab 9. bis einschließlich 27. Juli 1953 durchgeführt. Im ersten Prozess standen am 9. Juli sechs Personen aus Görlitz vor Gericht in Dresden, die offenbar an den Ausschreitungen und Besetzungen Görlitzer Gefängnisse beteiligt gewesen waren, nämlich Hermann Gierich, Siegfried Richter, Werner Herbig, Egon Gericke und Bruno Neumann. Angeklagt nach Art. 6 der DDR-Verfassung und Kontrollratsdirektive 38, erhielten die Beschuldigten Urteile zwischen acht und 15 Jahren Zuchthaus sowie Gefängnisstrafen.
Am 15. Juli 1953 endete am BG Dresden der Prozess gegen sechs Einwohner des Dorfes Zodel im Kreis Görlitz. Es war in Zodel offensichtlich darum gegangen, den Bürgermeister abzusetzen. Die Angeklagten erhielten Zuchthausstrafen zwischen 15 und sechs Jahren.
Die Ereignisse in Niesky zogen einen großen Prozess gegen die „Rädelsführer“ nach sich. Am 18. Juli 1953 wurde das Urteil in diesem Prozess gesprochen. Angeklagt waren Lothar Markwirth und 15 Andere, von der Zahl her war es der größte Prozess dieser Art im Bezirk Dresden. Die Angeklagten erhielten sehr hohe Strafen, Lothar Markwirth sogar lebenslängliche Haft. Die anderen verurteilte das Gericht zu Zuchthausstrafen von fünf bis 13 Jahren sowie zu teils langjährigen Gefängnisstrafen. Bei fast allen Verurteilten blieben die Berufungsbemühungen vor dem Obersten Gericht vergeblich.
Die Landeshauptstadt Dresden gehörte ebenfalls zu den Hotspots der Unruhen am 17. Juni 1953. Ihren Ausgangspunkt fanden diese in einem SAG-Betrieb im Süden der Stadt, dem Sachsenwerk in Niedersedlitz, der als größer Betrieb Dresdens gut 5.000 Beschäftigte hatte. Durch Mitarbeiter des Sachsenwerkes und des ABUS-Werkes wurde eine Streikkomitee gegründet. Dies traf sich am nächsten Tag wieder und formulierte Forderungen an die Regierung der DDR. Dann griff das MfS zu und verhaftete viele Mitglieder der Streikkomitees. Am 22. und 23. Juli verhandelte das Bezirksgericht Dresden vor großer Öffentlichkeit und mit erheblichem Presseecho in diesem Schauprozess. Die Hauptangeklagten Wilhelm Grothaus, ein ehemaliger von der NS-Justiz zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, erhielt 15 Jahre Zuchthaus. Saalfrank erhielt zehn Jahre Zuchthaus, Imme ein Jahr und sechs Monate Gefängnis. Gegen einige Angeklagte war das Verfahren eingestellt worden Die von den Verurteilten eingelegten Einsprüche gegen die Urteile wurden alle am 5. August 1953 vom Obersten Gericht der DDR verworfen.
Schon wenige Wochen nach der ersten Prozesswelle im Juni-Juli 1953 hatte sich das MfS wieder gefangen. Bereits im Herbst 1953 begannen „konzentrierte Schläge“ des MfS gegen im Westen beheimatet, in der DDR tätige Widerstandsorganisationen und ihre (nach DDR-Recht illegalen) DDR-Mitarbeiter, die alsbald die Untersuchungsgefängnisse des MfS wieder mit Häftlingen füllten.
Fotos:
Sachsenwerk in: Sack, Birgit / Gerald Hacke, Verurteilt. Inhaftiert. Hingerichtet. Politische Justiz in Dresden 1933–1945 | 1945–1957 (= Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft Bd. 15), Dresden 2016, S. 309,
Brief für Riese, ebenda, S. 311.